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    DER ROTE FADEN

Eines vorweg: Ich liebe, genieße und schätze Ricardas Briefe, die ich nur jeder/jedem Selbstständigen ans Herz legen kann!

Sie sind eine Art Newsletter, die immer wichtige, tiefgründige und schlaue Gedanken rund um das Thema Selbstständigkeit beleuchten. Sie holen mich ab, beruhigen mich (ah, ich bin nicht alleine mit diesem oder jenem Zweifel) und sind mir oft hilfreiche „Anschubser“ in Bezug auf mein Tun.

 

Doch der letzte Brief fordert mich mit einer Aussage heraus, die mich zu diesem Text veranlasst.

 

Im letzten Brief steht nämlich:

 

„Wir können und sollen und wollen unseren Kund:innen und unserem Umfeld überhaupt mehr Komplexität zumuten.

Mehr davon, wer wir sind, und wer wir noch sind.

Den Menschen, mit denen wir arbeiten wollen, zutrauen, dass sie selber denken und spüren können. Dass sie es schätzen, wenn wir uns nicht flach und eindimensional machen, nur um in eine marketingmäßig geforderte Nischenbox hinein zu passen. Wenn wir keine Pappfiguren mit nur einer Leidenschaft aus uns machen, weil das angeblich besser wirkt und mehr verkauft. Wenn wir uns nicht mit Biegen und Brechen zu einem von Außen verständlichen roten Faden zwingen.

(...)

Ich will mich noch mehr zeigen, ich will mich nicht mehr aufteilen in die Website-Frau hier und die Lyrikerin dort. Ich passe weder in die eine Schublade so richtig noch in die andere, und ich bin noch viel mehr als das.

(...)

Manchmal braucht es keinen roten Faden.“

 

 

Auch ich finde dieses marketingkonforme Nischendenken einschränkend und deshalb schreit ein großer Teil von mir: „Ja, ja, ja, genau! Weg mit diesen Schubladen und her mit der Vielfalt!"

Bin ich Biografin, Texterin, Lektorin oder Autorin? Definiert mich nicht noch vieles andere mehr? Bin ich von allem ein bisschen und damit aus Marketingsicht nichts so richtig? Muss ich mich festlegen lassen, gar eines zugunsten des anderen ganz lassen, nur damit es für mein Gegenüber angeblich greifbarer und einfacher wird? Damit meine KundInnen besser verstehen, wer ich bin (als ob sie nicht fähig wären, Vielfältigkeit zu verstehen?)? Nein. Ich vertraue darauf, dass die meisten so offen und schlau sind, Diversität verdauen zu können.

 

Sofort ist klar: Ricarda und ich liegen inhaltlich ganz nahe beieinander. Doch dann lese ich noch mal und bleibe wieder am Ausdruck „roter Faden“, den sie hier zweimal so kritisch erwähnt, hängen.

 

Der Begriff springt mich natürlich an, erwähne ich ihn auf meiner Website doch immer wieder, weil genau das eines der Ziele der Biografiearbeit ist: Menschen zu helfen, ihren „roten Faden“ zu finden und zu formulieren. Und nun soll er hinderlich sein? Etwas, das nervt?

 

Im allerersten Moment bin ich verunsichert, doch dann denke ich noch mal genauer über diese roten Fäden nach, von denen bei ihr und mir die Rede ist. Denn es sind verschiedene – ganz verschiedene!

 

Und damit komme ich zum Punkt. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass man den berühmten „roten Faden“ ganz unterschiedlich verwenden kann und wie wichtig es deshalb ist, meine Definition, meinen Gebrauch und mein Verständnis davon zu erklären.

 

Also los geht’s:

Niemals käme es mir in den Sinn, den roten Faden als etwas zu missbrauchen, das Biografien begrenzt, indem es verschiedene Persönlichkeitsanteile, Tätigkeiten oder Lebensabschnitte zu bündeln und in eine Schublade zu stecken sucht.

Der rote Faden, von dem ich rede, ist nicht starr und vereinfachend, er pocht nicht auf Stringenz, will nicht kategorisieren, sondern er will verbinden. Er versucht, Entwicklung nachvollziehbar zu machen, zu verstehen, wie eines zum anderen führt und wie eines das andere befruchtet oder gegebenenfalls auch behindert.

„Mein“ roter Faden ist ein Kontinuum, das integriert, nicht einengt, und ein Narrativ, das versöhnt, nicht ausschließt. Und so kann gerade er zu der Erkenntnis führen, dass sich jemand eben nicht „nur“ über eine Sache definiert, sondern über mehrere.

Allerdings sind diese verschiedenen Facetten unserer Vielfalt so gut wie immer durch eine Konstante verbunden (außer in wenigen, meist traumatischen und dramatischen, Ausnahmen). Ohne diese Konstante wäre Entwicklung nicht möglich, denn entwickeln kann sich nur etwas, das fortdauert – auch, wenn das nach einem Paradoxon klingt.

Diese Konstante erklärt, wieso jemand in einem Leben erst Herzchirurg und dann LKW-Fahrer ist und mit beidem glücklich und bei sich sein kann. Es sind verschiedene Ausprägungen/Entwicklungen derselben Basis, die sich mal so, mal anders ausdehnt.

 

Zum Glück schwingt im Normalfall in uns diese stabile Basis, die das, was zu uns passt, intuitiv erkennt, filtert, aufnimmt, ausprobiert, verarbeitet, umsetzt und nutzt. Deswegen entwickeln wir uns, erlernen verschiedene Dinge, haben diverse Interessen, probieren uns immer wieder aus und wagen uns auf neues Terrain, ohne uns selbst dabei zu verlieren.

 

Dieses Kontinuum, diese stabile Basis mitsamt ihrer Entwicklung, das ist der rote Faden, von dem ich rede. Ihn bewusster und greifbarer zu machen, ihn zu benennen, ist oft gar nicht so einfach, aber es ist genau der spannende Prozess, den Biografiearbeit unterstützt.

Sich der eigenen Basis und Entwicklung bewusst zu sein, hilft nämlich, sich schneller orientieren und leichter entscheiden zu können; ohne Möglichkeiten von vorne herein ausschließen zu müssen.

Wer seinen roten Faden zu greifen bekommt (was übrigens ein steter Prozess der Vertiefung bleibt), für den ist Vielfalt nicht beängstigend, sondern bereichernd - und damit höchst willkommen!

 

Und dann lese ich nochmals Ricardas Text und stelle fest:

Sie spricht hier von einem ganz spezifischen roten Faden, der von Marketinganleitungen definiert wurde, sehr wenig mit „meinem“ zu tun hat, und den sie meiner Meinung nach völlig zu Recht kritisiert und ablehnt.

 

Uff – danke, Ricarda, dass dein Brief mich zu dieser Klarstellung „verführt“ hat.

Jetzt kann ich mich weiterhin überzeugt mit meinen Kund*innen auf die Suche nach ihrem roten Faden machen. 

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